DER RITT AUF DER KANONENKUGEL UND ANDERE ABENTEUER
Im gleichen Feldzug belagerten wir eine Stadt - ich habe vor lauter Belagerungen vergessen, welche Stadt es war -, und Marschall Münnich hätte gerne gewußt, wie es in der Festung stünde. Aber es war unmöglich, durch all die Vorposten, Gräben und spanischen Reiter hineinzugelangen.
Vor lauter Mut und Diensteifer und eigentlich etwas voreilig stellte ich mich neben eine unserer größten Kanonen, die in die Stadt hineinschoß, und als sie wieder abgefeuert wurde, sprang ich im Hui auf die aus dem Rohr herauszischende Kugel! Ich wollte mitsamt der Kugel in die Festung hineinfliegen! Während des sausenden Flugs wuchsen allerdings meine Bedenken. Hinein kommst du leicht, dachte ich, aber wie kommst du wieder heraus? Man wird dich in deiner Uniform als Feind erkennen und an den nächsten Galgen hängen!
Diese Überlegungen machten mir sehr zu schaffen. Und als eine türkische Kanonenkugel, die auf unser Feldlager gemünzt war, an mir vorüberflog, schwang ich mich auf sie hinüber und kam, wenn auch unverrichteter Sache, so doch gesund und munter wieder bei meinen Husaren an.
Im Springen über Zäune, Mauern und Gräben war mein Pferd nicht zu schlagen. Hindernisse gab es für uns nicht. Wir ritten immer den geradesten Weg. Als ich einmal einen Hasen verfolgte, der quer über
die Heerstraße lief, fuhr zwischen ihm und mir dummerweise eine Rutsche mit zwei schönen Damen vorüber. Da die Rutschenfenster heruntergelassen waren und ich den Hasen nicht aufgeben wollte, sprang ich mitsamt dem Gaul kurz entschlossen durch die Rutsche
hindurch!
Das ging so schnell, daß ich mit knapper Mühe
und Not die Zeit fand, den Hut zu ziehen und die Damen um
Entschuldigung zu bitten.
Ein anderes Mal wollte ich mit meinem Litauer über einen Sumpf
springen. Bevor ich sprang, fand ich ihn lange nicht so breit wie
während des Sprungs. Nun, wir wendeten mitten in der Luft um und
landeten mit heiler Haut auf dem Trocknen. Aber auch beim zweiten
Anlauf sprangen wir zu kurz und sanken nicht weit vom ändern Ufer
bis an den Hals in den Morast! Und wir wären rettungslos
umgekommen, wenn ich mich nicht, ohne mich lange zu besinnen, mit
der eignen Hand am eignen Haarzopf aus dem Sumpf herausgezogen
hätte! Und nicht nur mich, sondern auch mein Pferd! Es ist manchmal
ganz nützlich, kräftige Muskeln zu besitzen. Trotz meiner
Tapferkeit und Klugheit und trotz meines Litauers Schnelligkeit und
Ausdauer geriet ich nach einem Kampf mit einer vielfachen Übermacht
in Kriegsgefangenschaft.
Und was noch schlimmer ist: Ich wurde als
Sklave verkauft! Das war ein rechtes Unglück, und wenn meine Arbeit
auch nicht gerade als Schwerarbeit zu bezeichnen war, so war sie
nicht nur recht seltsam, sondern auch ein bißchen lächerlich oder
ärgerlich, wie man will. Ich mußte nämlich die Bienen des
türkischen Sultans jeden Morgen auf die Weide treiben! Dort mußte
ich sie, als wären’s Ziegen oder Schafe, den ganzen Tag über hüten.
Und am Abend mußte ich sie wieder in ihre Bienenstöcke
zurückscheuchen. Eines Abends sah ich nun, daß zwei Bären eine der
Bienen angefallen hatten und sie ihres eingesammelten Honigs wegen
zerreißen wollten. Da ich nichts in der Hand hatte als meine
silberne Axt, die das Rennzeichen für die Sultansgärtner ist, so
warf ich die Axt mit aller Wucht nach den beiden Räubern. Doch sie
traf die Bären nicht, sondern flog an ihnen vorbei, stieg infolge
des gewaltigen Schwungs höher und höher und fiel erst, wo glaubt
ihr, nieder? Auf dem Mond!
Was tun? Wie sollte ich sie wiederkriegen? Wo gab es so lange
Leitern? Zum Glück fiel mir ein, daß die türkischen Bohnen in
kürzester Frist erstaunlich emporwachsen. Ich pflanzte sofort eine
solche Bohne, und sie wuchs doch
tatsächlich bis zum Mond hinauf und rankte sich um die eine Spitze der Mondsichel! Nun war es eine Kleinigkeit, hinaufzuklettern, und eine halbe Stunde später fand ich auch meine Axt wieder, die auf einem Haufen Spreu und Häcksel lag.
Ich war heilfroh und wollte schleunigst in die Türkei zurückklettern, aber ach, die Sonnenhitze hatte meine Kletterbohne völlig ausgetrocknet, und sie war zu nichts mehr zu gebrauchen! Ohne langes Federlesen flocht ich mir aus dem Mondhäcksel einen Strick, den ich an einem der Mondhörner festband. Dann ließ ich mich vorsichtig hinunter. Nach einiger Zeit hieb ich mit meiner silbernen Axt das überflüssig gewordene Stück über mir ab und knüpfte es unter mir wieder an. Das ging eine ganze Weile gut, aber mit einem Mal, als ich noch in den Wolken hing, riß der Strick! Und ich stürzte mit solcher Gewalt auf Gottes Erdboden, daß ich etwa zehn Meter tief in die Erde hineinfiel! Mir taten alle Knochen weh. Doch nachdem ich mich etwas erholt hatte, grub ich mir mit den Fingernägeln, die ich glücklicherweise zehn Jahre nicht geschnitten hatte, eine Treppe ins Erdreich, stieg auf dieser hoch und kehrte zu meinen Bienen zurück.
Das nächste Mal fing ich’s mit den Bären gescheiter an. Ich bestrich die Deichsel eines Erntewagens mit Bienenhonig und legte mich nicht weit davon in den Hinterhalt. Was ich erwartet hatte, trat ein. Vom Duft des Honigs angelockt, erschien bald darauf ein riesiger Bär und begann an der Deichselspitze so gierig zu lecken, daß er sich nach und nach die ganze Deichselstange durch den Rachen, den Magen und den Bauch hindurch und am Hinterteil wieder heraus leckte. Er stak wie am Spieß. Nun lief ich rasch hinzu, steckte durch das vordere Deichselende einen Pflock und ließ Meister Petz bis zum nächsten Morgen zappeln. Der Sultan, der zufällig vorbeispazierte, wollte sich fast totlachen.
Kurz darauf schlössen die Russen und die Türken Frieden, und ich wurde als einer der ersten Gefangenen ausgeliefert und nach Petersburg zurückgeschickt. Dort nahm ich meinen Abschied und kehrte nach Deutschland zurück. Es war ein so strenger Winter, daß sogar die Sonne Frostbeulen bekam, und ich fror noch viel mehr als auf der Hinreise.
Da mein Litauer von den Türken beschlagnahmt worden war, mußte ich mit der Schlittenpost reisen. In einem Hohlweg, der kein Ende nehmen wollte, bat ich den Postillion, mit seinem Hörn ein Signal zu blasen, damit wir nicht etwa mit einem uns entgegenkommenden Fuhrwerk zusammenstießen. Er setzte das Posthorn an die Lippen und blies aus Leibeskräften hinein. Aber so sehr er sich anstrengte, es kam kein Ton heraus! Trotzdem erreichten wir die nächste Poststation gesund und munter und beschlossen, Rast zu machen und uns von den Strapazen zu erholen. Der Postillion hängte sein Hörn an einen Nagel beim Küchenfeuer. Und wir setzten uns zum Essen.
Auf einmal erklang’s „Tereng, tereng, tereng, tengteng!” Wir sperrten die Ohren auf und machten große Augen.
Dann merkten wir, warum der Postillion nicht hatte blasen können. Die Töne waren in dem Hörn festgefroren! Nun tauten sie nach und nach auf, und es wurde ein richtiges Tafelkonzert daraus. Wir hörten unter anderem „Ohne Lieb’ und ohne Wein”, „Gestern abend war Vetter Michel da” und sogar das schöne Abendlied „Nun ruhen alle Wälder”.
So endete der Spaß mit dem Posthorn, und damit endet zugleich meine russische Reisegeschichte. Sollten womöglich einige Leser glauben, ich hätte bis hierher dann und wann gelogen, so rate ich ihnen in ihrem eigensten Interesse, das Buch zuzuschlagen. Denn auf der nächsten Seite bereits folgen Abenteuer, die noch wunderbarer als die bisherigen, aber ebenso wahr sind.